Wulle und Schönbuch „Jäger Spezial“ – zwei alte Bier-Marken in Stuttgart und Umgebung mit Tradition. Tatsächlich haben sie mehr miteinander zu tun, als so mancher denkt und weiß. Eigentlich trennt sie nur ein „c“ von einer gemeinsamen Geschichte. Stuttgarter-Böblinger Brauereigeschichte. Baden-Württembergs „Bier-Papst“ und Big Beer spielen dabei auch eine Rolle.
Ungefähr seit 2012 sieht man die roten, alten VW-Busse mit der Aufschrift „Wir wollen Wulle“ durch die Stadt fahren. Kein Stadtteilfest ohne die Flaschen mit dem markanten Stern und dem Bügel-Verschluss, und auch im Berliner Nachtleben ist das würzige „Vollbier hell“ inzwischen präsent. Die Stuttgarter Brauerei Dinkelacker hat mit der Wiederauflage der alten Marke einen Hit gelandet. Tatsächlich ist Dinkelacker mit Wulle bei den Spezialitäten in Bügelflaschen Marktführer. Erfunden hat es Ernst Imanuel Wulle aus der kleinen Gemeinde Nehren bei Tübingen und machte sich 1859 damit selbstständig. Das Bier der Wulle-Brauerei an der Neckarstraße, unweit vom jetzigen Ort mit der größten Feinstaub-Belastung in Deutschland, wurde nur drei Jahre später die führende Gastronomie-Marke in Stuttgart. Sechs regionale Brauereien wurden übernommen, und selbst nach dem Zweiten Weltkrieg, bei dem die Mälzerei zerstört und das Brauereigebäude stark beschädigt wurden, übernahm die Wulle-Brauerei sogar noch einen kleinen Konkurrenten. 1971 ging die Marke dennoch unter das Dach der Dinkelacker-Brauerei und wurde eingestellt, die Brauerei abgerissen. 2008 ließ Dinkelacker die Marke wiederauferstehen. „Damals war Becks sehr stark“, erzählt Stefan Seipel, Marketing-Chef bei Dinkelacker und an der Wiedereinführung von Wulle beteiligt. „Wir haben uns gesagt, wir müssen weg von der Longneck-Flasche.“ Natürlich wollte man sich eine neue Zielgruppe erschließen, aber der Nostalgie-Effekt bei älteren Stuttgartern sei auch ziemlich stark, so Seipel.
Wulle, das Bier mit dem eigenen Song
Zum Kult-Faktor des Wulle-Bieres hat neben der Vermarktung als Retro-Getränk ein neues spektakuläres Gasthaus beigetragen. „Carls Brauhaus“ befindet sich seit April 2014 in exponierter Lage am Stuttgarter Schlossplatz, in einer ehemaligen Bank. Die Toiletten sind im umgebauten Tresor, dessen dicke Stahltüren sind geblieben. Hier ist regelmäßig Anstich eines neuen Wulle-Fasses, und man kann das Kult-Bier mal frisch gezapft genießen. Und dann wurde dem alten Werbespruch und damit dem Bier auch noch ein musikalisches Denkmal gesetzt: Ebenfalls 2014 brachte die Indierock-Band „Schmutzki“ einen Song namens „Wir wollen Wulle“ heraus.
Seitdem sponsert Dinkelacker Freibier auf Touren der Band – was natürlich gerade in den Uni-Städten total gut ankommt und zur jungen Zielgruppe passt. Überhaupt setzt Dinkelacker auf Regionalität und soziales Engagement. Über 2.000 Vereine von ganz kleinen bis zum Fußball-Zweitligisten Heidenheim sponsert die Brauerei (Der VfB Stuttgart hat Krombacher als Partner. Nach 30 Jahren trennte sich der Verein 2011 von Dinkelacker als Sponsor.). Es gibt den Wulle-Hilfe e.V. und seit 2007 ein Brauereifest.
Kleiner, alternativer Markt mit dem „Hopfenwunder“
2016 durfte sich Jungbraumeister Matthias Noack da austoben und ein neues, an Craft angelehntes Bier kreieren. Das „Hopfenwunder“, ein kaltgehopftes Lager, gab es danach zunächst nur in ausgewählten Gastro-Betrieben, seit Spätsommer 2017 aber auch im Handel. Auch wenn es von Dinkelacker wohl nie ein IPA geben wird, „die Craftbier-Bewegung tut uns gut“, sagt Seipel. Denn man sei gezwungen, sich dem Kunden und damit dem eigenen Sortiment und dem Markt immer wieder neu zu stellen. „Wir scheuen uns da nicht, auch mal wieder was vom Markt zu nehmen, wenn es nicht funktioniert. Wir werden aber nicht irgendeinem Trend hinterherrennen. Alle Entscheidungen werden unter der Prämisse der Nachhaltigkeit getroffen.“ Seipel glaubt nicht, dass die Größe einer Brauerei das Entscheidende für den Verbraucher ist, sondern nach wie vor der Preis. „Und da haben eben auch wir mit unseren Regional-Marken dasselbe Problem wie die neuen Gypsy-Brauer.“ Dennoch ist Dinkelacker mit seinen fünf Marken, allen voran Schwaben Bräu, zwei Gastronomien, zwei von drei Festzelten für Frühlings- und Volksfest auf dem Cannstatter Wasen und insgesamt 750.000 Hektolitern Ausstoß pro Jahr sicherlich sehr gut aufgestellt. Zumindest so gut, dass gerade auf zwei Baustellen insgesamt 16 Millionen Euro investiert werden können.
Drei Jahre „Big Beer“
Dieses Bewusstsein und eine gewisse Selbstkritik bestanden aber nicht immer. Dinkelacker hat drei Jahre Zugehörigkeit zu „Big Beer“ hinter sich, weil Mitte der Neunziger kein Nachfolger in Sicht war. 2004 schloss man sich Interbrew an, weil die Stuttgarter damals das Konzept gut fanden und in Spaten/Franziskaner einen guten Partner sahen. Schnell wurde jedoch klar, dass man dann vor allem das eigene Weißbier Sanwald nicht mehr hätte in der Gastro verkaufen können. 2007 kaufte Wolfgang Dinkelacker, Urenkel des Firmengründers, die Brauerei dann von InBev (durch die Fusion von AmBev mit Interbrew) zurück. Seitdem legt das Unternehmen Wert darauf, sich „Familienbrauerei“ zu nennen. Fast zeitgleich übernahm die Radeberger-Gruppe zu 100% den Haupt-Konkurrenten Stuttgarter Hofbräu. Darüber will man lieber kein Wort verlieren. Aber immerhin brauchte man zum Jubiläum „200 Jahre Cannstatter Wasen“ mit Hofbräu gemeinsam ein Jubiläumsbier.
Dinkelackers Vorgeschichte liegt in Böblingen
Zwar gibt es mit Sophies Brauhaus, Wichtel und dem Brauhaus Calwer Eck auch traditionsreiche Hausbrauereien in Stuttgart. Aber sie fallen kaum ins Gewicht. Um den Erfolg von altem sowie neuem Bier in Stuttgart zu verstehen, muss man den Talkessel verlassen. Und zwar vor allem rund 28 Kilometer südwestlich nach Böblingen.
Dass die Dinkelackers eigentlich aus Böblingen kommen, wissen selbst eingefleischte Bier-Fans und alteingesessene Stuttgarter nicht. Karl Gottfried Dinkelacker gründete 1823 die Brauerei in Böblingen. Seine Söhne Christian und Wilhelm waren sich bei der Fortführung des Familienunternehmens aber überhaupt nicht einig, so dass Wilhelm seinen Bruder 1873 auszahlte, der dann 15 Jahre später die Brauerei Dinkelacker in Stuttgart gründete. 1890 tilgte der Böblinger Teil der Familie dann das C aus dem Namen, 1906 wurde die Brauerei offiziell umbenannt in „Brauerei Schönbuch“, damit es keine Verwechslungen gibt. Noch heute kommt es vor, dass der jetzige Inhaber Werner Dinkelaker jun. gefragt wird, ob er was mit der Stuttgarter Brauerei zu tun habe. „Dann muss ich immer erklären, dass streng genommen die was mit uns zu tun haben.“ Schon 1906 waren die Böblinger modern und führten ein Spezialbier ein, nur drei Jahre nach Einführung des Flaschenbieres. Heute heißt die Brauerei „Braumanufaktur Schönbuch“ und wird von Werner Dinkelaker jun. in sechster Generation geführt. Innovation und Einfluss von außen gab es in Böblingen schon immer, und davon erzählt Dinkelaker mit Stolz.

Neugier und Pionierarbeit
1991 führte sein Vater Werner Senior das Weißbier ein. Damals hatte die Brauerei einen fränkischen Braumeister. Und auch der Junior schaute sich um, schon sein erster Job brachte ihn nach der Ausbildung in Weihenstephan (alle Dinkelakers waren da) nach Venezuela. Und bevor er von seinem Vater übernahm, bewarb er sich per Annonce in der Brauer-Zeitung für einen Job im Ausland. „Ich wollte noch mal was anderes machen vorher.“ Sogar nach Bagdad hätte er gehen können. Es wurde dann Nord-Zypern, „der muslimische Teil, meine Frau fragte mich, ob ich spinne“. Dort half er bei der Optimierung einer Brauerei, der das Bier immer nach einer Woche sauer wurde. Dann packte ihn Craft. Ein fruchtiges Pale Ale lernte er 2008 bei Garrett Oliver in der Brooklyn Brewery in New York kennen. „Mir war nicht klar, wie die das hinbekommen, und Garrett verwies nur auf den Hopfen, Cascade“, erzählt Dinkelaker. Den besorgte er sich – und geriet in einen riesigen Streit mit seinem Braumeister. Schließlich wurde aber doch produziert, und es gab das erste Schönbuch Pale Ale hopfenreduziert als Summer Ale, bevor das jetzige Pale Ale ab 2013 in den Verkauf ging.
Werner Dinkelaker lebt Bier – durch und durch
„Als ich vor 20 Jahren hier übernahm, hat man sich eher an den Brauereien in Stuttgart orientiert, wir waren klassisch regional“, erzählt Dinkelaker. „Das ist ja auch in Ordnung, man muss ja einen Kernmarkt bilden.“ Aber ihm fehlte die Leidenschaft dabei, Anerkennung und Wertschöpfung fürs Produkt. „Und da gehören alle zusammen. Viele Vertriebsleute haben mit dem Produkt an sich nichts zu tun und sagen dann, ich kann’s nur verkaufen, wenn ich’s billig mache. Aber die Wertschätzung muss doch bei uns selbst anfangen. Deswegen lobe ich immer alle und setze auch auf Austausch, sonst geht das nicht.“ Als Erstes ist Dinkelaker damals rumgefahren und hat sich bei Kollegen vorgestellt. Er macht auch selbst Tastings – und Familie und Mitarbeiter machen die Brauereiführungen. „Ich würde nie Dienstleistungen abgeben. Das ist nicht mehr authentisch.“
Authentizität, Tradition, Moderne
Es kann dann schon sein, dass man bei einer Führung fast mehr über Hildegard von Bingen und ihre Hopfen-Forschung erfahren kann. Für Dinkelaker hängt alles mit allem zusammen. Er lebt Bier. Und das ist letztendlich auch eine gute Voraussetzung für Vertrieb und Vermarktung, denn Schönbuch macht keine Werbung. Aber die passiert indirekt durch diese gezeigte Leidenschaft, durch Offenheit, letztendlich auch, obwohl Schönbuch natürlich selbst unter anderem an der Brauerei und auch in Stuttgart Bier-Tempel betreibt, durch die Kneipen-Auswahl fürs Schönbuch-Bier. „Wir sind überall, wo’s cool ist. Aber da hab‘ ich uns selbst vorgestellt.“ Bei einem rückläufigen Markt im vergangenen Jahrzehnt hat die Brauerei so den Ausstoß fast verdoppelt (43.000 Hektoliter). Auch außerhalb des Marktes trägt Dinkelaker seine Begeisterung nach außen. So bloggt er unter bierblog.eu seit ein paar Jahren über seine Reisen zu anderen Brauereien und durch andere Bier-Welten. Wann immer es geht, besucht er andere Brauer und hat stets ein offenes Ohr für Bier-Enthusiasten. In Baden-Württemberg wird er von den Medien nicht selten als „Bier-Papst“ betitelt.
Reinheitsgebot-Jünger
Eine konservative Seite gibt es an Dinkelaker aber dann doch: Er ist Reinheitsgebot-Jünger. Zur Qualitätssicherung des Produkts findet er es nach wie vor gut und nötig. „Ich glaube, die Zukunft ist, klassische Stile richtig gut zu machen.“ Was nicht bedeute, siehe Cascade-Hopfen und Pale Ale, neue Entwicklungen zu verdammen. Aber die Kunst sei, sie zu integrieren und das Klassische im Sinne des Kernmarktes nicht zu verlieren. Das kann allerdings dann gerne wieder antizyklisch sein. „Heller Bock beispielsweise war ja auf der Liste der aussterbenden Bierarten. Zu dem Zeitpunkt haben alle gesagt, man muss leichte Biersorten machen. Ich fand, das geht nicht. Helles Bockbier ist ein Beispiel, dass man doch Modernisierung und Tradition zusammen haben kann.“
Ein anderes Beispiel ist das meistverkaufte Schönbuch-Bier, wie das Wulle bei Dinkelacker ein altes neues: das „Jäger Spezial“. Ein süffiges Export, das es bereits in den 70ern gab, aber wieder total in Vergessenheit geraten war. Bei Umbauarbeiten 2016 im Filmzentrum Böblingen wurde eine alte Flasche des Bieres gefunden, und in der Brauerei begab man sich auf die Recherche. „Tatsächlich fanden wir dann in einem Tresor auch noch die alten, orangefarbenen Etiketten und hatten sofort Lust, an der Rezeptur zu arbeiten und das Bier aber so, wie es damals ausgesehen hat, auch heute wieder auf den Markt zu bringen“, so Dinkelaker. Wie beim Wulle wurde dem Retro-Trend sei Dank sofort ein Erfolg draus.
Glückliche Fügung mit der „Lucky Experience“
Auch Dinkelaker hat seine Bier-Begeisterung anscheinend weitervererbt. Denn gerade mal 18 und noch nicht mal das Abitur in der Tasche braute sein Sproß Lukas im letzten Jahr ohne das Wissen seines Vaters recht erfolgreich – ebenfalls klassisch in moderner Interpretation nach Schönbuch-Philosophie – ein Helles, das „Lucky Experience“, und brachte es eigenständig auf den Markt. „So a Aff‘!“, sagt Dinkelaker lachend. „Der kam zu mir und fragte, ob er als Geschenk zum Abi ein Bier brauen dürfe. Und dann macht er das mit dem Braumeister schon vorher hinter meinem Rücken!“ Denn erst sollten natürlich die Prüfungen gemacht werden. Das dauerte Lukas wohl zu lange. Als „Strafe“ erlegte der Papa ihm auf, dass er sein eigenes Bier dann aber auch selbst verkaufen müsse, also eigenhändig in Kneipen gehen und es vorstellen und so weiter. Aber bei all dem Ärger – Dinkelaker kann seinem Sohn nicht wirklich böse sein, schließlich hat er sich damit schon früh als Nachfolger für die siebte Generation Schönbuch empfohlen.
Eigentlich ist Dinkelakers Anlage mit den eigenen Bieren schon sehr gut ausgelastet. Dennoch hat er mit einer einmaligen Ausnahme ermöglicht, dass Olly Koblenzer und sein Team von der Kraftbierwerkstatt bei Schönbuch brauen können. Man hat jedoch stark den Eindruck, die beiden brauchen und ergänzen sich auch sonst, und sei es nur wegen des Spaßes am Streitgespräch. „Der Werner und ich, wir haben beide ganz schön einen an der Klatsche!“, sagt Koblenzer grinsend. Wenn Dinkelaker der Reinheitsgebot-Jünger ist, dann ist Koblenzer sein Alter Ego in der Craftbier-Bewegung. Hier gibt es mehr über die Kraftbierwerkstatt zu lesen.
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