Momentan läuft im Ersten die Wiesn-Serie „Oktoberfest 1900“. Die meisten Medien stören sich an der Faktenarmut und dem wagen Zusatz „Nach wahren Begebenheiten“. Tatsächlich wurden die aber zahlreich berücksichtigt. Ein Faktencheck.
Natürlich, es ist immer noch Fiction, und es ist immer noch Unterhaltung. Und ja, es geht derb daher, und vielleicht fließt ein bisschen viel Blut. Aber oberflächlich ist „Oktoberfest 1900“ nun wirklich nicht. Auch nicht bei den Bier-Fakten, wie das viele Medien in den meisten Rezensionen zur Serie festgestellt – und sich damit nicht die Mühe gemacht haben, das ein oder andere vielleicht mal selbst nachzurecherchieren, selbst die SZ nur in geringem Maße. Dabei ist das spannend, denn bei „Oktoberfest 1900“ ist Bier-Geschichte gleich Stadtgeschichte, wie in den meisten Städten Europas in den vergangenen Jahrhunderten. Die Entwicklung von Brauereien und ihre Innovationskraft hing damals stark mit dem wirtschaftlichen Reichtum und der Entwicklung einer Stadt zusammen.
Prank geht auf Georg Lang zurück
Nur eine Bierburg: Das fängt dort an, wo auch die Serie ansetzt. Die Figur des Curt Prank geht auf den Nürnberger Georg Lang zurück. Ja, ausgerechnet ein Franke war sozusagen der erste große Wiesn-Wirt in München (Ich glaube übrigens nicht, dass die Münchner damals wirklich zu allen anderen außerhalb des Stadtkerns „Preißen“ oder gar „Saupreißen“ gesagt haben wie in der Serie, aber das ist ein anderes Thema). Es gab um 1900 zwar schon andere größere Bierburgen, wahr ist aber, dass um 1900 nur eine einzige mit 6.000 Plätzen vom Münchener Magistrat erlaubt werden sollte, und diese wollte Lang bauen und betreiben. Allerdings hatte er in Wirklichkeit nicht ein Bier-Kartell und den von den Münchner Brauern gesteuerten Magistrat gegen sich, wie in der ARD-Serie dargestellt. Sondern es war wohl so, dass der Magistrat von seiner Tatkraft begeistert war und ihn gern und freiwillig unterstützte. So lassen es jedenfalls die Aufzeichnungen über Münchner Biergeschichte im Stadtmuseum München lesen. Wahr ist wiederum an der Sache mit der Bierburg, dass Lang Strohmänner einsetzte, weil man als Wirt tatsächlich die Pacht für mehrere Parzellen auf der Wiesn erwerben musste, um die Bierburg betreiben zu können. Auch das Aussehen der Bierburg in der Serie ist realistisch. Hier hat die Produktionsfirma sich offenbar sehr an den Fotos dieser Zeit orientiert.
Nur Bier von Münchener Brauereien auf der Wiesn: Das stimmt ebenfalls. Ob es wirklich wegen Lang war, ist historisch nicht erwiesen, aber ebenfalls um die Jahrhundertwende von erließ die Stadt München die Regelung, dass auf dem Oktoberfest nur Bier von Münchener Brauereien ausgeschenkt werden darf. Ganz klar, um die heimische Wirtschaft zu schützen, das Geschäft der Brauereien nach dem Brachliegen im Sommer wieder anzukurbeln und den Grundstein zu legen für das, was dann später in der Münchener Gastronomie gängiges Geschäft wurde: Nach britischem Vorbild quasi Lizenz-Wirtschaften aus Gasthäusern machen und diese verpflichten, nur Bier einer Brauerei zu verkaufen und auf Jahre einen bestimmten Absatz zu garantieren – wodurch die Brauereien indirekt Schankwirtschaften betrieben, ohne sich mit all den negativen Seiten des Geschäfts die Hände schmutzig machen zu müssen.
Betrugsversuch: Dass der Nürnberger Georg Lang aus Not versuchte, trotz Verbotes sein eigenes Bier auf der Wiesn in der Burg unterzuschieben und zu verkaufen wie in der Serie mit einem verzweifelten Prank dargestellt, stimmt nicht. Lang schenkte in seiner Bierburg im ersten Jahr, also 1900, Münchner Kindl aus – denn er betrieb nach Angaben des Stadtarchivs München von 1900 bis 1902 auch den Bierkeller von Münchner Kindl – und danach Augustiner (das ich persönlich ja eh für das beste Münchener Bier überhaupt halte, aber jetzt schweife ich schon wieder ab).
Referenz an einstige Brauereien
Münchner-Kindl-Bier: In „Oktoberfest 1900“ wird eher als Randnotiz erwähnt, wie man kleine Brauereien von der Wiesn und nach der Wiesn aus dem Gastronomie-Lizenz-Geschäft fernhalten möchte. Das ist realistisch, leider. Die Wiesn ist bis heute kein Ort für kleine Brauereien. Und drum herum war das Konkurrenzgeschäft brutal. Wenn es nicht durch diese Form von Verdrängung geregelt werden konnte, sabotierte man schon mal ein paar hundert Liter Bier oder versuchte eben, die Verdrängung über Bierpreis und Pacht zu regeln. In der Serie kauft Prank zuerst die Bestände eine kleinen Münchener Brauerei auf, bevor ihm das dann nach ein paar Tagen ausgeht und er sein eigenes Bier unter falschem Etikett verkauft. Später wird sein Konkurrent, Brauerei-Sproß Roman Hoflinger von Deibl Bräu diese kleine Brauerei aufkaufen.
Vielleicht ist es hier ein bisschen viel Interpretation meinerseits, aber möglicherweise ist dieser Teil der Erzählung als Referenz auf die Münchner Kindl Brauerei zu sehen. Diese existierte nur 25 Jahre, von 1880 bis 1905 in Haidhausen, bevor sie von der Unionbrauerei übernommen wurde, die wiederum in den 1920ern im Löwenbräu-Imperium aufging. Just jetzt Ende August war zu lesen, dass ein ehemaliger Braumeister der Traunsteiner Hofbräu die Marke wiederbeleben will. Ganz ehrlich, wenn das Münchner Kindl das Stadtwappen ziert und für „Münchner Bier“ allgemein steht, dann muss es doch auch die Biermarke wieder geben, oder? Ein Gelände zwischen Obergiesing und Unterhaching sei bereits gekauft, mit dem Ausschank und Verkauf rechnet der Neu-Münchener Brauer ab 2023. im Unternehmen sollen dann auch seine beiden Söhne mitschaffen – also ganz Hoflinger, hoffentlich nicht so gebeutelt wie Deibl Bräu in der Serie.
Münchner Festbier – Erfindung des Märzens: Auf dem Oktoberfest darf nur Festbier verkauft werden, das ist ebenfalls fest geregelt. Das Festbier muss eine bestimmte Stammwürze haben, was bedeutet, dass das Bier mindestens einen Alkoholgehalt von 5,8% hat – und damit stärker ist als Lager, Helles und Pils. Und dieses Festbier ist Märzen. Bei „Oktoberfest 1900“ wird nicht klar, um was für Bier es sich handelt, es geht lediglich um Kontingente. Tatsächlich sieht man bei Deibl Bräu sogar noch was vom Brauvorgang und der Abfüllung. Das wiederum ist unrealistisch. Vor der Erfindung der mechanischen Bierkühlung (dazu mehr unten) war es verboten, im Sommer, also zwischen April und September zu brauen. Daher heißt das Märzen „Märzen“, weil es das letzte Bier war, das vor der Sommerpause gebraut wurde. Stärker eingebraut, damit es sich eben bis zum Herbst hält. Technisch betrachtet ist das Märzen ein sehr malziges Lager. Es war traditionell ein dunkles Bier, weil das Malz in den vergangenen Jahrhunderten eher dunkler war. Erst seit Ende des 19. Jahrhunderts hat sich helles Malz durchgesetzt, allen voran Wiener Malz für das Brauen des Märzens. Hopfennoten spielen eigentlich im Geschmack keine Rolle.
„Ein Prosit der Gemütlichkeit“: In „Oktoberfest 1900“ gibt es eine Szene in der Bierburg, in der Prank der Kapelle selbst dirigiert, das „Prosit“ schneller zu spielen, da die Menschen mehr Zeit zum Trinken haben sollen. Stimmt: Eine eigene Kapelle gab es in der ersten Wiesn-Bierburg. Und auch das Wiesn-„Prosit“ stammt aus der Zeit. Der gesungene Trinkspruch ist allerdings kein Münchener. Das „Prosit“ kommt aus Sachsen. Komponiert wurde es vom Chemnitzer Bernhard Dietrich. Genaues Entstehungsjahr unbekannt.
Sieben Großbrauereien: Die Serie sagt uns durch die Plätze im Bierkartell, dass es im München der Jahrhundertwende nicht mehr als sieben Großbrauereien geben darf. Aber wie sah es wirklich aus um 1900 in Minga? Nachweise lassen sich für 23 Brauereien im Stadtgebiet finden. Davon 8 große. Die Großbrauereien standen unangefochten an der Spitze der städtischen Wirtschaft. Wie hoch der Ausstoß an Bier war, ist nicht bekannt. Aber München hatte um 1900 keine halbe Million Einwohner. Kein Wunder also, dass die Bier-Wirtschaft spitze bleiben sollte. Und der Wettkampf mit Nürnberg um den Titel Bierstadt Bayerns Nummer 1 jahrzehntelang gärte.
Wettbewerb mit Nürnberg
Bierstadt Nürnberg: Jahrzehntelang war damals im Süden nicht München, sondern Nürnberg Bierstadt Nummer 1. Hier saßen die großen Brauereien (Tucher, Altstadthof, Schanzenbräu, Zeltner, Barfüßer), die im Deutschen Reich und darüber hinaus am meisten Bier exportierten. Hier konnte in den Felsenkellern unter der Stadt enorm viel auf Eis gelagert werden. Ein ganzer Wirtschaftszweig war darauf spezialisiert. Und nicht nur Bier ließ sich da unten in der Kühle lagern und gut verkaufen, wenn jemand die Fässer rauf und runter schaffte und befüllte: Mit Sauerkraut machte die Stadt auch gute Geschäfte – und es war in Kriegszeiten der einzige Lieferant von Vitamin C. Im Mittelalter garantierte die Stadt Nürnberg ihren Bürgern eine Versorgung mit Bier. Die ersten Regelungen der Räte rund um Bier als Wirtschaftsgut und Teil der Versorgungsstruktur finden sich ab 1302 in alten sogenannten Satzungsbücher. Auch die Festlegung, dass ausschließlich mit Gerste zu brauen sei, datiert sich auf diese Zeit irgendwann zwischen 1302 und 1310. Die Franken haben übrigens auch schon viel eher angefangen, ihr Bier zu schützen. Das Reinheitsgebot von 1516, das wir heute als „Bayerisches Reinheitsgebot“ kennen, ist nicht das älteste Lebensmittelschutzgesetz der Welt. Und auch zur Regelung von Abgaben und damit der Weizen dem Backen vorbehalten bleibt, kann man es nicht als erstes der Welt heranziehen. Die Münchener mögen durstig gewesen sein, aber die Nürnberger waren mit Sicherheit – als zahlenmäßig kleinere Stadt – durstiger: Laut der Stadt Nürnberg betrug der jährliche Bierverbrauch pro Kopf in Nemberch seit dem 15. Jahrhundert rund 200 Liter. Um 1880 stand Nürnberg in der Blüte seiner Bierproduktion. Und dann kam die Erfindung der…
Maschinelle Bierkühlung: Bis fast zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde Bier in Felsenkellern mit großen, herangeschafften Eisbrocken und -platten gekühlt. Bis Carl von Linde 1876 die sogenannte Kältemaschine erfand. Die Möglichkeit, mechanisch Bier zu kühlen. Kein Eis-Schleppen mehr. Ein findiger Unternehmer wollte die erste Kältemaschine Deutschlands im Nürnberger Felsenkeller installieren. Noch heute zeugt davon eine verhältnismäßig große „Halle“ im Fels, die mit Stahl-Querstreben gestützt werden muss. Denn man fing an zu bauen, um dann festzustellen, dass der Platz nicht reicht, die Maschine nicht reinpasst, man aber nicht mehr rausschlagen kann, weil man dann die Statik verliert und die Keller einzustürzen drohen. Zudem war die Abluft nicht geklärt. Ein ambitioniertes Projekt also, nicht richtig durchkalkuliert. Zeit und Fortschrittswillen arbeiteten aber gegen Nürnberg. Was hier nicht in den Keller passte, passte in München: Die Münchener Brauer-Familie Sedlmayr gab Linde Geld und Platz, um die erste Kältemaschine in Deutschland aufzustellen, die der Spaten-Brauerei zugute kam. Damit wurde es möglich, ganzjährig untergärig zu brauen und Bier dauerhaft kühl zu lagern. Von Lindes Erfindung war in der Brauer-Welt so erfolgreich, dass er bis 1890 445 Brauereien mit Kältemaschinen ausstattete. Und ja, genau, die Linde-Kühlschränke, die es später gab, das ist der Mann.
Es ist eine Anekdote in der Geschichte des unglaublichen Siegeszugs der Dampfmaschine in allen Varianten – aber der Anfang vom Untergang Nürnbergs als Bierstadt Nummer 1. Ich finde, in der Serie gibt es zahlreiche Anspielungen auf das Wettbewerbsverhältnis zwischen München und Nürnberg in Sachen Bier. Und dieser Wettbewerb war knallhart. Es ging um nichts weniger als die Wirtschaftskraft der ganzen Stadt jeweils.
Weißbier und Bockbier – keine Münchener Erfindungen: Das Schicksal in Franken ist auch deswegen noch mal tragischer, wenn man bedenkt, dass Nürnberg mit dem Rotbier einen eigenen Bierstil entwickelt und erfolgreich vermarktet hatte. Während München sich vielleicht mit dem Märzen schmücken könnte. Aber die weitaus bekannteren Bierstile Weißbier und Bockbier sind eben keine Münchener Erfindungen. Das Weißbier, auch Weizen, kommt ursprünglich aus Hamburg. Hier wurden bereits im 14. Jahrhundert entsprechende Rezepte entwickelt, vor allem für den Export und für die Seefahrer, deswegen auch „Schiffsbier“ genannt. Zu dieser Zeit wurde in Bayern vor allem noch Wein und Most getrunken. Und das Bockbier kommt aus Niedersachsen und wurde aus Einbeck nach Bayern importiert, genauer gesagt nimmt die Geschichte, die gerne als bayerische Geschichte verkauft wird, dadurch ihren südlichen Verlauf, dass die Wittelsbacher (ja genau, die mit dem Weißbiermonopol) ab 1555 aus Einbeck beliefern ließen. Ein Brauhaus wurde gegründet und dann 1614 der Einbecker Braumeister Elias Pichler aus Niedersachsen abgeworben. Und zack! – war das „Ainpöckisch Bier“ ein Münchner Bier. Die Erfindung des Eisbocks wiederum als noch stärkeres Starkbier ist auch nicht Original-Münchnerisch, sondern der Eisbock wurde der Legende nach zufällig im oberfränkischen Kulmbach entdeckt. Aber des is wieder a anner Geschicht.
Biermadel-Streik: Bleibt zuletzt noch zu klären, ob es auf der Wiesn wie in „Oktoberfest 1900“ erzählt, wirklich einen Streik der Biermadeln gab, also der Bedienungen in den Wiesn-Gasthäusern. Das ist frei erfunden zum Wohle der Emanzipationsbewegung in der Erzählung der Serie. Es bleibt aber zu vermuten, dass viele damals keinen regulären Lohn bekamen, sondern vom Trinkgeld leben mussten und daher gleichsam dem horizontalen Gewerbe zugeneigt waren. Gott sei Dank ist das heute anders, wenngleich der Sexismus derselbe zu sein scheint.
Aber ein jeder und eine jede kann sich ja auch einfach mal zu Hause ein Fass aufmachen. In Corona-Zeiten sowieso besser.
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