„Bei weiteren Einschränkungen wird es richtig eng“

Corona macht allen zu schaffen. Foto: Kerstin Fritzsche

Corona macht den Craft-Brauern und Bier-Unternehmern zu schaffen. Ohne die staatliche Soforthilfe gäbe es einige nicht mehr. „Wir haben uns ganz gut über Wasser gehalten. Aber wenn weitere Einschränkungen kommen, wird es richtig eng“, sagt Santiago Javier Ramirez Aguilar vom Bierwerk Gerstenfux. Wie Santiago und andere in der Region Stuttgart durch den zweiten Lockdown kommen.

Santiago Javier Ramirez Aguilar hat im Oktober 2017 sein Bierwerk Gerstenfux in Nürtingen gegründet. In einem kleinen Gastro-Brewpub gab es seine Biere vor Ort zu genießen, mit leckerem Flammkuchen mit Teig aus eigenem Treber. Bis das Virus kam. „Durch den ersten Lockdown sind wir am Anfang relativ heil durchgekommen, da waren nicht viele Sachen geplant, also haben wir nicht viel verloren. Nur die Einnahmen über unsere Gaststätte, was auch ein wichtiger Teil des Geschäfts war, aber eben nur ein Teil“, erzählt Santiago. Aber er verzagte nicht, durch die erhöhte Aufmerksamkeit der Kund:innen in der Umgebung und den eigenen Lieferservice habe der Gerstenfux sogar ein paar Wochen lang ein höheres Verkaufsvolumen (in Litern, nicht in Euro)
gehabt, weil sich so viele Bier nach Hause hätten liefern lassen.

„Doch dann fing es an, sich wirtschaftlich bemerkbar zu machen. Die Festivals und Stadtfeste sind ja im Sommer alle ausgefallen, und das hat schon eine Lücke im Geldbeutel gerissen.“ Santiago beantragte Corona-Soforthilfe und konnte zum Glück in der ersten Runde relativ problemlos Geld bekommen, was die Kosten für die Zeit bis etwa Ende Juli einigermaßen abgedeckt habe. Danach wurde es dann aber problematisch, denn die Hürden für die zweite Runde Corona-Soforthilfe waren sehr viel höher, „so dass es für uns nicht mehr möglich war, diese zu erfüllen, obwohl wir die Hilfe dringend gebraucht hätten“, erzählt der gebürtige Mexikaner weiter. „Ab August haben wir uns mit Kurzarbeit für meine Mitarbeiter über Wasser gehalten, es gab weitere Investitionen, Privatdarlehen und den Einstieg eines Freundes als Gesellschafter und Investor in die GmbH. Momentan geht es gerade so, aber wenn weitere Einschränkungen kommen, wird es wieder richtig eng!“

Santiago Javier Ramírez Aguilar in seinem Bierwerk Gerstenfux. Foto: Kerstin Fritzsche
Santiago Javier Ramírez Aguilar in seinem Bierwerk Gerstenfux. Archivfoto: Kerstin Fritzsche

 

Bar-Gründung mitten in der Krise

Weil Santiago mit seinem Unternehmen aber nicht nur vom Staat abhängig sein will und zudem auch noch andere Pläne hat, hat er ein Crowdfunding ins Leben gerufen, um in der Nürtinger Altstadt eine neue Bier-Bar eröffnen zu können. Der Plan, eine Bier-Bar in der Innenstadt zu eröffnen, sei bereits etwa zwei Jahre alt. Denn am Standort der Brauerei mit der Gaststätte in Zizishausen sieht Santiago keine Möglichkeit, die Kund:innen-Zahlen zu steigern. Hat er keine Angst, dass sein Plan in der Innenstadt in Krisen-Zeiten nicht schiefgehen könnte? „Nürtingen ist eine Kleinstadt, und die Angebote zum Ausgehen sind beschränkt, aber wir haben viele Studenten und andere Zielgruppen (junge Familien, z.B.), die unserer Kundschaft entsprechen und die sich über weitere Optionen in der Innenstadt freuen würden. Ich wollte seit 2018 einen Biergarten eröffnen, aber es ist bisher an der Genehmigung und an den möglichen Plätzen im Freien gescheitert.“

Erst dieses Jahr im Sommer fand sich dann eine geeignete Location in sehr guter Lage in der Nürtinger Altstadt. Es war der Oberbürgermeister, der die Bierfüchse darauf aufmerksam machte, dass eine Bar frei werde. Er habe sich vehement dafür ausgesprochen, das Projekt mit der Bar anzugehen. Denn Johannes Fridrich (parteilos), seit August 2019 OB in Nürtingen, möchte die Innenstadt wieder mehr beleben und attraktiver gestalten. Und Fridrich weiß, dass von nix auch nix kommt – und unterstützt daher tatkräftig mit seinem Team.

„Corona gibt vor, wie lange es dauern wird“

„Ich habe nicht wirklich Angst, dass es schiefgeht“, so Santiago. „Ich denke, inzwischen haben wir uns einen guten Namen in Nürtingen gemacht, und interessierte Gäste gäbe es genug. Ich denke nur, wir müssen es jetzt so lange aushalten, wie Corona uns das vorschreibt. Das ist eher das Problem. Ich hoffe daher, dass wir mit den staatlichen Hilfen so lange überbrücken können, bis wir den neuen Standort öffnen dürfen.“ Hier kommt das Crowdfunding ins Spiel, das bis Ende November lief. Denn damit will das Gerstenfux-Team einen großen Teil der Mehrkosten für Renovierung, Einrichtung und Eröffnung decken. Bis zum Ende waren mehr als 6.000 Euro von 73 Unterstützer:innen zusammengekommen. Angestrebt waren allerdings 11.000 Euro.

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Bar richtig gut laufen kann, sobald die strengen Corona-Regelungen vorbei sind“, gibt Santiago sich kämpferisch. „Unser Konzept ist gut, wir haben uns wirklich viel Mühe gegeben (im Team und mit Beratung eines befreundeten Innenarchitekten das Konzept entworfen), dass es schön und angenehm wird. Die Räume haben an sich viel Potential, wir haben eine schöne Außenterrasse im mittelalterlichen Teil der Altstadt, ich habe großes Vertrauen in unsere Mannschaft, und die Lage ist wirklich auch super. Und das, zusammen mit dem Interesse der Nürtinger für Ausgehmöglichkeiten… stimmt mich sehr optimistisch.“

Zudem hat Santiago einen motivierten Bar-Manager eingestellt. So erhofft er sich, dass wenn die Bar öffnen kann, vieles von ihm erledigt war, da die letzten Wochen eine ziemliche Doppelbelastung gewesen seien und vor allem Santiagos Frau und seine Familie darunter gelitten haben, wenn neben dem normalen Betrieb auch alle Wochenenden draufgegangen sind, um das neue Projekt voranzutreiben. Nicht ideal in Krisen-Zeiten. Aber was ist gerade schon normal – und ein normales Arbeitslevel?

Die Brauerei bleibt weiterhin am selben Standort, der Gastraum auch. Er kann für private Veranstaltungen gemietet werden. Allerdings soll sich in Zukunft der ganze Gastronomiebetrieb am neuen Standort in Nürtingen abspielen.

Zwischen Aufgeben und Aufbruchstimmung

Die derzeitige Stimmung sieht Santiago eher gemischt. Einige Brauer von kleinen Brauereien überlegten es sich immer mehr aufzugeben. Bei anderen hingegen sehe er so etwas wie Aufbruchstimmung auf Abruf: „Sie warten gerade darauf, dass es besser wird, um richtig los zu starten.“ Aber nicht jeder sei natürlich von der Persönlichkeit her so stabil, um mit der derzeitigen Situation gut umgehen zu können.

Vertriebssituation verbessern

Wo sich allerdings erheblich etwas getan hat in der Region Stuttgart, ist die Vertriebssituation. Schon im Sommer gründete sich eine Vertriebsgemeinschaft zwischen O’Reilly’s, Kraftpaule, Bierwerk Gerstenfux, Bierothek und CaSt-Brauerei. Deren gemeinsamer Lieferservice war in der ganzen Region unterwegs. Allerdings war alles eher zufällig aus der Not geboren: „Wir wollten die Kollegen vom O’Reilly’s unterstützen und gleichzeitig unseren Vertrieb in Stuttgart erweitern“, so Santiago, der auch exklusiv für das Irish Pub ein Bier braut, das Lager „Nextport“. „Darum habe ich beim O’Reilly’s angefragt, ob sie fahren würden, ob sie einen Bottleshop machen oder welche
anderen Optionen sie hätten. Zeitgleich hatte wohl auch CaSt angefragt. Also haben wir uns zusammengetan, mit dem Irish Pub als Mittelpunkt, und dann kam die Bierothek noch dazu.“

Danilo Paulus: wahre, lokale Bier-Liebe

Danilo beim Ausliefern
Danilo beim Ausliefern. Foto: privat

Jetzt gibt es noch einen zweiten Lieferdienst für die Region, dem auch Santiago mit dem Bierwerk Gerstenfux beigetreten ist. Hier ist der Bier-Enthusiast, der alles ins Laufen brachte, der 25-jährige Bier-Sommelier Danilo Paulus aka „0711 Biersommelier“. „Ich bin selbst großer Fan von den Brauereien, für die ich jetzt einen Lieferdienst organisiert habe“, sagt er.

Als der Lockdown „light“ für den November bekanntgegeben wurde und manche Brauereien wieder einen Lieferdienst angeboten haben, habe er direkt nachgeschaut, wo sie überall liefern, um dann enttäuscht feststellen zu müssen, dass Stuttgart bei den meisten nicht im Liefergebiet liege. „Daraufhin habe ich mir gedacht: Warum nicht einfach die Kleinbrauereien unterstützen und anbieten, dass ich den Lieferservice in Stuttgart übernehme?“ Gesagt, getan. Jetzt liefert Danilo neben dem Bierwerk Gerstenfux für Hey Joe Brewing, Lost River Brewing, Singhbräu und Brauwerk Freistil Tübingen.

Als Danilo ihn fragte, ob er mitmacht, hat Santiago sofort ja gesagt. Denn er sehe „einen Trend, der durch Corona beschleunigt wurde, aber sicher bleiben wird: Dienstleistungen, die den Kunden übers Internet angeboten werden und dass das Produkt zeitnah an den Kunden geliefert wird, wird sich meiner Meinung nach mehr und mehr durchsetzen. Das ist ja auch einer der Gründe, wieso solche Portale wie Lieferando erfolgreich sind, oder Uber-Eats in anderen Ländern. Jeder hat ein Smartphone, und es ist so einfach, mit drei Klicks dein Biersortiment für den Freitagabend fünf Stunden davor zu bestellen und mit Paypal zu bezahlen. Wenn jemand so etwas logistisch auf die Beine stellen kann, wird er viel Geld machen können.“

„Supermärkte sind in der Region vermutlich wichtiger als Kneipen“

Allerdings fährt Santiago selbst auch noch in Nürtingen und Umgebung aus, auch wenn die Nachfrage in den letzten Monaten stark nachgelassen hat. Allerdings habe er das auch nicht mehr so aktiv beworben. Und einen anderen Trend sieht er nach wie vor: Santiago hält Supermärkte für den Bierkonsum in Deutschland viel bedeutender als Kneipen. Allerdings gelte das für „Standard-Biermarken“ mehr als für kleine Craftbier-Marken. „Vor allem in der Region Stuttgart (oder in ländlicheren Gegenden mehr). Die Region ist sehr delokalisiert und weitläufig. Nur ein kleiner Teil der Leute kann in den größeren Städten regelmäßig ausgehen. Alle Kleinstädte drumherum haben nur begrenzte Ausgehmöglichkeiten, aber ein sehr großer Teil der Bevölkerung wohnt in diesen kleineren Städten und Dörfern.“

Jedoch sieht Santiago, dass nur Kneipen den kleinen, lokalen Marken ermöglichen können, sich besonders zu präsentieren. Deswegen hat er auch fürs O’Reilly’s ein Bier nur für sie produziert. Kleiner Spoiler: Das „Nextport“ wird aber auch in der neuen Bier-Bar in Nürtingen dann zu erhalten sein.

Bewusster, regionaler Konsum wird hoffentlich bleiben

Bei all seinem beeindruckenden Engagement für die kleinen Brauereien der Region: Danilo selbst trifft die Corona-Krise schon sehr. Derzeit absolviert er ein unentgeltliches Praktikum bei der Schönbuch Braumanufaktur in Böblingen. Das Ganze habe er sich durch Jobs in der Gastronomie am Abend und am Wochenende finanzieren wollen, was ja gerade komplett wegfällt. „Dennoch möchte ich mich nicht beschweren, da ich glücklicherweise noch Rücklagen aus meiner Zeit bei einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft habe. Ich glaube, dass es derzeit genug Menschen gibt, die Corona noch härter trifft“, sagt er weiterhin optimistisch.

Und mehr als das: Danilo sieht sogar Chancen in der Krise. Dass die Gesellschaft sich aufmerksamer in ihrer Umgebung bewege und kleine, individuelle Unternehmen großen Zuspruch erhalten. Er denkt, dass „die meisten auch nach der Krise eben nicht ausschließlich Produkte von Weltkonzernen konsumieren, sondern individuelle Produkte kaufen möchten. Und diese findet man zum Beispiel auch in den Kleinbrauereien. Ich hoffe, dass noch mehr Leute auf die Kleinbrauereien in unserer Region aufmerksam werden und diese auch nach der Krise unterstützen!“

Über CaSt zum Craftbier zum Sommelier

Danilo kam über die Brauereifeste von CaSt, damals noch im Heusteigviertel, zum Craftbier. „Bier habe ihn zwar schon immer fasziniert und die Fernsehbiere schon früh gelangweilt. „Auf einem der ersten Craft Beer Festivals in Stuttgart habe ich dann mit meinem Kumpel zusammen beschlossen, dass wir unbedingt mal selbst Bier brauen müssen. Daraus hat sich ein wöchentliches Treffen ergeben, bei dem wir uns um unser selbstgebrautes Bier kümmern, also Rezepte entwickeln, brauen, abfüllen, schlauchen oder auch einfach nur online recherchieren und Verbesserungspotential überlegen“, erzählt Danilo. Aus dem Hobbybrauen heraus hat er dann die Ausbildung zum Diplom-Biersommelier absolviert. „Das hat mich so fasziniert, dass ich mich entschlossen habe, auch beruflich in diese Richtung zu gehen. Daher absolviere ich derzeit Praktika in verschiedenen Brauereien und werde hoffentlich im September nächstes Jahr den Braumeister an der Doemens Akademie absolvieren.“

Und ist in der Region Stuttgart überhaupt Platz für alle Brauer? „Ich sehe in der Region Stuttgart auf jeden Fall riesiges Potential. Man darf nicht vergessen, wie viele Einwohner die Metropolregion Stuttgart hat. Meines Erachtens liegt das Problem eher darin, dass viele gar nicht wissen, was hier bereits an tollen Brauereien vorhanden ist“, meint Danilo. Diese Erfahrung mache er auch bei seinem Lieferservice: „Nur wenige kennen alle fünf Brauereien, die ich im Sortiment führe. Daher habe ich mir es als ‚0711 Biersommelier‘ auch auf die Fahne geschrieben, diese Brauereien zu supporten. Sei es derzeit durch den Lieferdienst oder aber auch, wenn ich wieder im Kraftpaule hinter der Bar stehe.“

Confidunt in cervisia nobis – Crowdfunding Nr. 2

Apropos Kraftpaule: Stuttgarts Craftbier-Kneipe Nummer Eins ist einigermaßen gut durch den ersten Lockdown gekommen und konnte auch schnell und unkompliziert von staatlicher Soforthilfe profitieren. Aber der zweite Lockdown schaut auch hier etwas anders aus. Deswegen macht auch der Kraftpaule ein Crowdfunding. Mit dem Versprechen von Exklusivität kann jede:r Unterstützer:in Mitglied der geheimen Beer Society werden. Es sei die dritte große Herausforderung in der Unternehmensgeschichte. Vor allem gehe es darum, weiterhin Bier produzieren zu können. Das erste Funding-Ziel von 9.000 Euro wurde bereits erreicht. Am 2. Dezember endet die Aktion und wird dann vermutlich um die 12.000 Euro gesammelt haben. Dann könne es im neuen Jahr mit neuer Kraft weitergehen.

Santiago hofft ebenfalls wie die Kraftpaule-Jungs, dass nächstes Jahr alles langsam besser wird. „Solange man irgendwie mit Hilfsgeldern und auf Sparflamme arbeiten kann und keine große Schulden machen muss, werde ich das noch ein Jahr oder länger weiter aushalten können, denke ich.“ Aber er weiß auch, dass nicht jeder die Möglichkeit hat. Und nicht das Glück, ein weiteres Einkommen in der Familie zu haben. Was bedeute, dass Santiago mehr Zeit für die Betreuung seiner Kinder braucht – und das dann wiederum auf Kosten des Betriebs der Brauerei geht. Aber anders gehe es nun mal nicht. Und „es gibt uns ein bisschen Freiheit…“, schließt er zuversichtlich.

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Eine Antwort zu „„Bei weiteren Einschränkungen wird es richtig eng““

  1. […] In den letzten Monaten mussten CaSt, Lost River Brewing und Bierwerk Gerstenfux aufgeben. Ende 2020 hatte ich sie  gefragt, wie es ihnen ging. Damals wollte natürlich noch keiner wirklich ans Aufhören […]

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